210. Der in diesem Bericht herausgearbeitete Entwicklungsbegriff weist mehrere untereinander zusammenhängende Dimensionen auf, in denen eine Vielzahl von Akteuren auftreten. Die Notwendigkeit, Prioritäten zu setzen und eine entsprechende Koordinierung vorzunehmen, ist unumgänglich.
211. Jede einzelne Dimension der Entwicklung ist für den Erfolg der jeweils anderen unerläßlich und von entscheidender Bedeutung für das zentrale Konzept des auf den Menschen ausgerichteten Fortschritts. Eine erfolgreiche Entwicklung ist nicht möglich, wenn eine Dimension für sich allein verfolgt wird, und keine dieser Dimensionen kann aus dem Entwicklungsprozeß ausgeschlossen werden. Ohne Frieden kann die menschliche Tatkraft auf lange Sicht nicht produktiv eingesetzt werden. Ohne Wirtschaftswachstum wird es an den Ressourcen fehlen, die notwendig sind, um die Probleme anzupacken. Ohne eine gesunde Umwelt wird die Produktivität die Grundlagen für den menschlichen Fortschritt verzehren. Ohne soziale Gerechtigkeit werden die Ungleichheiten alle noch so großen Anstrengungen zur Herbeiführung positiver Veränderungen zunichte machen. Ohne politische Mitbestimmung in Freiheit werden die Menschen ihr eigenes und ihr gemeinsames Schicksal nicht mitgestalten können.
212. In Anbetracht der Knappheit der Ressourcen und der innerstaatlichen und externen Sachzwänge gilt es, eine Auswahl zu treffen und Prioritäten zu setzen. Manchmal wird es notwendig sein, Maßnahmen zur Verwirklichung bestimmter Aspekte der Entwicklung zurückzustellen. So kann es in einigen Ländern beispielsweise sein, daß die kurzfristigen Auswirkungen wirtschaftlicher Reformen die politische Stabilität gefährden.
213. Die Koordinierung der Maßnahmen und der Hilfe ist unabdingbar, wenn der maximale Nutzeffekt der Entwicklungsressourcen erreicht und aus den Bemühungen um eine Reihung der Prioritäten echter Nutzen gezogen werden soll. Unter Koordinierung ist die klare Zuweisung von Verantwortlichkeiten, eine wirksame Arbeitsteilung unter den zahlreichen an dem Entwicklungsprozeß beteiligten Akteuren und die Verpflichtung eines jeden von ihnen zu verstehen, auf gemeinsame und miteinander vereinbare Gesamt- und Einzelziele hinzuarbeiten. Die einzelnen Akteure im Entwicklungsprozeß müssen sich darum bemühen, daß ihre Maßnahmen einander ergänzen und zueinander beitragen und nicht isoliert stattfinden oder miteinander konkurrieren. So gesehen müssen die Maßnahmen eines jeden dieser Akteure und ihr Zusammenwirken untereinander stets von der Notwendigkeit einer entsprechenden Koordinierung geleitet sein.
214. Unter den Punkten, bei denen alle Beteiligten auf nationaler, regionaler und weltweiter Ebene kooperieren müssen, sind zu nennen: der Weltfrieden und die internationale Sicherheit, der wirtschaftliche Fortschritt, die Umwelt, die soziale Gerechtigkeit, Demokratie und eine gute Staatsführung. Alle müssen Teil ein und desselben Unterfangens sein. In der Vergangenheit konnte die internationale Gemeinschaft durch das Setzen von Prioritäten beim Einsatz ihrer Ressourcen und durch die Koordinierung ihrer Maßnahmen Erfolge erzielen - bei der Ausrottung von Krankheiten, bei der Bekämpfung von Hungersnöten, bei Maßnahmen zum Schutz der Umwelt und bei ihren Bemühungen um die Begrenzung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Die Prioritätensetzung bei den Entwicklungsmaßnahmen und die Koordinierung der Akteure des Entwicklungsprozesses ist auf allen Ebenen notwendig. Weltweite Probleme, wie der Kampf gegen das menschliche Immunschwäche-Virus (HIV) und das Syndrom der erworbenen Immunschwäche (Aids), erfordern ein koordiniertes Vorgehen der Staaten, internationalen und regionalen Organisationen, nichtstaatlichen Organisationen und anderer Stellen. In anderen Fällen muß sich die Koordinierung auf eine bestimmte Region oder einen Teil der Gesellschaft konzentrieren. Die Geber müssen sich untereinander abstimmen; die Empfänger müssen für eine entsprechende Koordinierung innerhalb ihrer einzelstaatlichen Systeme sorgen.
215. Da Entwicklung als eine vielgestaltige, zeitlich nicht begrenzte Aufgabe zu verstehen ist und da Entwicklungsmaßnahmen auf die besonderen einzelstaatlichen Bedürfnisse, Prioritäten und Umstände eingehen müssen, läßt sich keine allein gültige Theorie und kein allein verbindlicher Prioritätenkatalog festlegen, der zu jeder Zeit für die Entwicklungsanstrengungen aller Länder anwendbar wäre. Da in der Entwicklung jedoch ein ständiges Abwägen der jeweiligen Prioritäten und Schwerpunkte und eine laufende Überprüfung der Bedürfnisse und Politiken notwendig ist, können die Rolle und die Wichtigkeit verantwortungsbewußten staatlichen Handelns bei der Förderung der Entwicklung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Da Entwicklung ein internationales Unterfangen sein muß, ist die Regierungs- und Verwaltungsführung eine Frage, deren Bedeutung und Auswirkungen unter Umständen über einzelstaatliche Grenzen hinausgehen.
216. Die Staaten müssen entscheiden, wann es gilt, schwierige Politiken zu unterstützen, und wann der Ausübung mächtigen Drucks, sei es von außen oder von innen, Widerstand geleistet werden muß. Gute Staatsführung verlangt Weisheit und historisches Verantwortungsbewußtsein, wenn es um die Entscheidung geht, wann den Marktkräften freier Lauf zu lassen ist, wann die zivile Gesellschaft die Führung übernehmen kann, und wann der Staat unmittelbar intervenieren soll.
217. Bei den einzelstaatlichen Entwicklungsstrategien ist danach zu trachten, daß die Entwicklungsprogramme und -projekte in sich stimmig und kohärent sind. In Anbetracht der großen Anzahl von Akteuren und zu bewältigenden Aufgaben, innerhalb der einzelnen Länder wie auch auf internationaler Ebene, sind Aufsplitterung und Inkonsistenz häufige Probleme. Im Inland besteht die Herausforderung darin, eine kohärente und umfassende Entwicklungsvision zu entwerfen. International besteht die Herausforderung darin, Maßnahmen und Ressourcen möglichst wirksam zur Unterstützung der einzelstaatlichen Entwicklungsziele einzusetzen.
218. Die einzelnen Gesellschaften wägen ab, welchen Entwicklungsweg sie einschlagen; die internationale Gemeinschaft muß hier mit Besonnenheit vorgehen. Überzeugungsarbeit, nicht Druck bewirkt am ehesten die entschlossensten Anstrengungen und die dauerhaftesten Ergebnisse. Während die Hauptverantwortung für Entwicklung bei den einzelnen Staaten liegt, müssen die internationalen Akteure im Entwicklungsprozeß, die ihnen Unterstützung gewähren, zunächst einmal anerkennen, wie komplex diese Aufgabe ist.
219. Eine erfolgreiche Koordinierung ist nur möglich, wenn der Wille zur Zusammenarbeit vorhanden ist. Es können Mechanismen und Strukturen entwickelt werden, deren Aufgabe darin besteht, sich derjenigen Bereiche anzunehmen, in denen es zu Doppelarbeit, Überschneidungen und Inkonsistenz kommt. Bessere Mechanismen und Strukturen können eine Zusammenarbeit indessen weder erzwingen oder gewährleisten, noch sind sie ein Ersatz für politischen Willen. Sofern die Geber nicht bereit sind, miteinander zu kooperieren anstatt miteinander in Wettbewerb zu treten, sofern Organisationen nicht gewillt sind, als Partner anstatt als Rivalen zu arbeiten, sofern die Organisationen nicht den Mut haben, den Erfolg ihrer Bemühungen an den Fortschritten zu messen, die sie erzielen, werden Doppelarbeit, Überschneidungen und Inkonsistenz die Entwicklungsanstrengungen auch weiterhin hemmen.
220. Entwicklungsprioritäten und -modelle können den einzelnen Völkern von der internationalen Gemeinschaft nicht aufgezwungen werden. Dies ist eine der Lehren, die wir aus der Vergangenheit ziehen müssen. Die internationale Gemeinschaft kann und muß jedoch feststellen, wie die internationalen Entwicklungsressourcen am besten eingesetzt und eine größere Konsistenz und bessere Abstimmung unter den internationalen Akteuren im Entwicklungsprozeß erzielt werden kann.
221. Das Landesstrategiekonzept eröffnet eine bedeutende neue Möglichkeit zur Verstärkung der Koordinierung. Dank dieses Konzepts können die Länder gemeinsam mit den Vereinten Nationen Entwicklungsprojekte ausarbeiten und Prioritäten für die Verwendung von Entwicklungsgeldern festlegen. Die breite Anwendung dieses Verfahrens auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe könnte beträchtliche Auswirkungen haben. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in Ermangelung eines allumfassenden Ansatzes, der alle externen Aspekte der Entwicklungszusammenarbeit erfaßt, ist das Setzen von Prioritäten bei den internationalen, zwischenstaatlichen wie auch nichtstaatlichen, Entwicklungsanstrengungen sowie deren Koordinierung nach wie vor dringend notwendig.
222. Das System der residierenden Koordinatoren ist ein wertvoller Mechanismus zur besseren Einbindung der Entwicklungshilfe in das gesamte Landesprogramm. Der residierende Koordinator trachtet sicherzustellen, daß die weitreichenden operativen Kapazitäten der Organisation voll in den Dienst der einzelstaatlichen Ziele gestellt und voll zum Aufbau einheimischer Kapazitäten eingesetzt werden, wobei er sich die Kapazität des gesamten Systems der Vereinten Nationen zunutze macht. Der residierende Koordinator kann sicherstellen helfen, daß die wirtschaftlichen und sozialen Forschungsarbeiten und grundsatzpolitischen Analysen, die operativen Aktivitäten, die humanitäre Hilfe und die Förderung der Menschenrechte einander auf einzelstaatlicher Ebene unterstützen und verstärken. Das System der residierenden Koordinatoren muß noch weiter gestärkt werden.
223. Als eine universale Organisation mit umfassender Aufgabenstellung spielen die Vereinten Nationen eine besonders wichtige Rolle, wenn es darum geht, die Festlegung internationaler Entwicklungsprioritäten zu erleichtern und die Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen den zahlreichen Akteuren des Entwicklungsprozesses zu fördern. Indem sie zur Bewußtseinsbildung beitragen und Informationen bereitstellen, indem sie als Forum für die Konsensbildung dienen und durch die Ausarbeitung von Regeln, Normen und Verträgen die Zusammenarbeit fördern, und indem sie insbesondere selbst als Akteur an Ort und Stelle in den Entwicklungsländern auftreten, leisten die Vereinten Nationen ihren Beitrag zu den Entwicklungsanstrengungen.
224. Prioritätensetzung und Koordinierung sind wichtige Notwendigkeiten bei allen Organisationen und Institutionen; bei den Vereinten Nationen, einer Organisation mit so vielen unterschiedlichen Mitgliedern und einer so breit gefächerten Aufgabenstellung, kommt ihnen jedoch eine ganz besondere Bedeutung zu, wenn ein effektives Arbeiten gewährleistet sein soll.
225. Die Charta der Vereinten Nationen selbst anerkennt die besondere Bedeutung der Koordinierung im Rahmen des Systems der Vereinten Nationen, indem sie dem Wirtschafts- und Sozialrat unter der Aufsicht der Generalversammlung die wichtige und schwierige Aufgabe überträgt, die Politiken und Aktivitäten der Vereinten Nationen und ihrer zahlreichen Sonderorganisationen zu koordinieren. Der Rat ist ein jederzeit bereitstehendes, mit beachtlichem Potential ausgestattetes Instrument, das von großer Hilfe sein kann, wenn es darum geht, die Prioritäten für die Allokation der internationalen Entwicklungsressourcen festzulegen. Die Koordinierung darf sich nicht nur auf Regierungen und zwischenstaatliche Institutionen erstrecken, sondern muß auch die Maßnahmen der zahlreichen wichtigen nichtstaatlichen Akteure im Entwicklungsprozeß berücksichtigen.
226. Schon jetzt profitieren eine Reihe von Organen der Vereinten Nationen von der Mitwirkung von Vertretern der Wirtschaft, der Arbeitnehmer und der Konsumenten sowie anderer bedeutender Gruppen. Es müssen neue Mittel und Wege gefunden werden, um diese Akteure in die Beratungen auf allen Ebenen der Entwicklungsanstrengungen einzubeziehen.
227. Im Laufe der Jahre haben das Fehlen klarer grundsätzlicher Richtlinien seitens der Generalversammlung und der Mangel an einer wirksamen grundsatzpolitischen Koordinierung und Kontrolle durch den Wirtschafts- und Sozialrat im Rahmen des Systems insgesamt zu mangelnder Kohäsion und einer unklaren Ausrichtung geführt. Auf allen Ebenen - in den zentralen Organen, den Programmen und den Regionalkommissionen - ist es zu einer stetigen Proliferation von Unter- und Nebenorganen gekommen, während grundsatzpolitische Kohärenz immer weniger zu erkennen ist. Der neubelebte Rat könnte wesentlich dazu beitragen, daß im gesamten System der Vereinten Nationen größere grundsatzpolitische Kohärenz und bessere Koordinierung erreicht wird.
228. Das System der Vereinten Nationen verfügt über einen unvergleichlichen Wissens- und Erfahrungsschatz, der den Entwicklungsländern zur Verfügung steht. Wenn die Stärken des Systems auf der Ebene der einzelnen Länder geschlossen zur Geltung gebracht werden sollen, erfordert dies ein erneutes Bekenntnis zur Notwendigkeit einer Koordinierung, der einheitliche Zielsetzungen zugrunde liegen müssen. Dank des UNDP, ihres zentralen Finanzierungsmechanismus, verfügen die Vereinten Nationen über ein einzigartiges weltweites Netz von Landesbüros, welche die Infrastruktur für die operativen Aktivitäten der Organisation in der ganzen Welt bilden und es ihr gestatten, flexibel und rasch auf wechselnde einzelstaatlichen Prioritäten zu reagieren.
229. Die Bretton-Woods-Institutionen als Sonderorganisationen bilden einen integrierenden Bestandteil des Systems der Vereinten Nationen. Sie sind wichtige Quellen der Entwicklungsfinanzierung und der Beratung in grundsatzpolitischen Fragen. In der technischen Hilfe spielen sie eine immer aktivere Rolle, was die Gefahr von Überschneidungen mit der zentralen Finanzierungsrolle des UNDP sowie auf Gebieten in sich birgt, auf denen auch andere Sonderorganisationen Zuständigkeit besitzen. Es wird besonders zu überlegen sein, wie diese Institutionen und andere Organisationen des Systems unter Zugrundelegung ihrer jeweiligen besonderen Stärken enger zusammenarbeiten können. Bei den operativen Aktivitäten erscheint es angezeigt, systematischer und in koordinierter, komplementärer und sich wechselseitig verstärkender Weise von der im Rahmen der Bretton-Woods-Institutionen angebotenen Kapitalhilfe Gebrauch zu machen, wobei das UNDP und die Sonderorganisationen für die Finanzierung der technischen Hilfe aufkommen.
230. Inwieweit die Vereinten Nationen fähig sind, in ihren eigenen Politiken und Aktivitäten den in diesem Bericht dargelegten Wechselbeziehungen Rechnung zu tragen, wird weitgehend von der Wirksamkeit ihrer Koordinierungsmechanismen und -strukturen abhängen. Die Vereinten Nationen können den Mitgliedstaaten Entscheidungen jedoch nicht abnehmen. Der Zweck dieser Agenda besteht darin, jedem einzelnen Mitgliedstaat Leitlinien für die gedankliche Auseinandersetzung mit den Problemen und für praktische Maßnahmen an die Hand zu geben.
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