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Agenda für Entwicklung
II. Die Dimensionen der Entwicklung


E. Demokratie als gute Staatsführung

118. Der Zusammenhang zwischen Entwicklung und Demokratie ist intuitiv faßbar, läßt sich allerdings schwer darstellen. Empirisch scheinen Demokratie und Entwicklung langfristig nicht voneinander zu trennen zu sein, doch haben die Ereignisse nicht immer auf einen klaren Kausalzusammenhang zwischen den beiden Prozessen hingewiesen. In manchen Ländern ist ein gewisser Entwicklungsstand erreicht worden, dem später ein Trend zur Demokratisierung folgte. In anderen Ländern ist durch die Demokratisierung der Weg für eine wirtschaftliche Revolution bereitet worden.

119. Bei einer Betrachtung der Demokratie im Entwicklungskontext muß sich unser Augenmerk auf Prozesse und Tendenzen und nicht auf punktuelle Ereignisse richten. Aus dieser Perspektive wird der natürliche Zusammenhang zwischen Entwicklung und Demokratie deutlicher. So wie die Entwicklung kein punktuelles Ereignis, sondern ein Prozeß ist, so muß auch die Demokratie als ein Prozeß angesehen werden, der sich ständig weiterentwickelt und der langfristig aufrechterhalten werden muß. Bei der Weltkonferenz über Menschenrechte ist die synergistische Wechselbeziehung zwischen Demokratie, Entwicklung und der Achtung vor den Menschenrechten hervorgehoben worden.

120. Demokratie und Entwicklung sind auf grundlegende Weise miteinander verknüpft. Sie sind miteinander verknüpft, weil die Demokratie langfristig die einzige Grundlage bietet, miteinander im Wettstreit stehende ethnische, religiöse und kulturelle Interessen so zum Ausgleich zu bringen, daß das Risiko eines gewaltsamen Konflikts im Inneren auf ein Mindestmaß beschränkt wird. Sie sind miteinander verknüpft, weil die Demokratie aufs engste mit der Frage der Regierungs- und Verwaltungsführung verbunden ist, die sich ihrerseits auf alle Aspekte der Entwicklungsbemühungen auswirkt. Sie sind miteinander verknüpft, weil die Demokratie ein grundlegendes Menschenrecht ist, dessen Förderung an sich bereits eine wichtige Entwicklungsmaßnahme darstellt. Sie sind miteinander verknüpft, weil die Teilhabe der Menschen an den Entscheidungsprozessen, die sich auf ihr Leben auswirken, eines der Grundprinzipien der Entwicklung ist.

121. Die aufgestaute wirtschaftliche Verzweiflung und der Mangel an demokratischen Mitteln, Veränderungen zu bewirken, haben selbst in vergleichsweise homogenen Gesellschaften gewalttätige und destruktive Impulse ausgelöst oder solche noch verschärft. Bürgerkriege und bürgerkriegsähnliche Konflikte werden immer mehr zu Bedrohungen für den Weltfrieden und zu großen Hindernissen für die Entwicklung. Ethnische Gegensätze, religiöse Intoleranz und kultureller Separatismus bedrohen den Zusammenhalt der Gesellschaften und die Unversehrtheit von Staaten in allen Teilen der Welt. Entfremdete und verunsicherte Minderheiten, und sogar Mehrheiten, neigen mehr und mehr dazu, sozialen und politischen Anliegen durch bewaffnete Auseinandersetzungen Geltung zu verschaffen.

122. Die Demokratie ist langfristig das einzige Mittel, das es gestattet, die vielfältigen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und ethnischen Spannungen, die eine ständige Bedrohung des Zusammenhalts der Gesellschaften und der Existenz von Staaten bedeuten, zu schlichten und in geregelte Bahnen zu lenken. Ohne die Demokratie als Forum des Wettbewerbs und treibende Kraft des Wandels wird die Entwicklung prekär bleiben und ständigen Gefährdungen ausgesetzt sein.

123. Unruhen und Konflikte können in wenigen Monaten Entwicklungsfortschritte zunichte machen, die im Verlauf vieler Jahre unter großen Mühen erzielt wurden. In dem blinden Bestreben, alte Rechnungen zu begleichen, vermeintlich erlittenes Unrecht wettzumachen und neue Utopien zu verwirklichen, wird auch das bereits Gewonnene wieder verspielt.

124. Die Abhaltung von Wahlen ist nur ein Element der Demokratisierung. Die Mitgliedstaaten haben die Vereinten Nationen um Hilfe ersucht und solche Hilfe auch erhalten, wenn es darum ging, die Entkolonialisierung zu erleichtern und so das Selbstbestimmungsrecht zu verwirklichen, Verfahren für einen reibungsloseren und leichteren Übergang zur Demokratie zu erarbeiten und demokratische Alternativen zum Konflikt zu schaffen. Auch Tätigkeiten wie die Ausarbeitung von Verfassungen, die Einleitung von Verwaltungs- und Finanzreformen, die Stärkung der innerstaatlichen Menschenrechtsgesetze, die Verbesserung der Strukturen des Gerichtswesens, die Ausbildung von Menschenrechtsbeamten und die Hilfestellung für bewaffnete Oppositionsbewegungen bei ihrer Umwandlung in politische Parteien, die dem demokratischen Wettbewerb gewachsen sind, wurden von den Vereinten Nationen unterstützt.

125. Die Verbesserung und Vervollkommnung der Regierungs- und Verwaltungsführung ist eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg einer jeden Entwicklungsagenda oder Entwicklungsstrategie. Die Regierungs- und Verwaltungsführung ist vielleicht die wichtigste Entwicklungsvariable, über die die einzelnen Staaten Kontrolle haben.

126. Der Begriff der besseren Regierungs- und Verwaltungsführung hat im Entwicklungskontext mehrere Bedeutungen. Im besonderen ist darunter zu verstehen: die Aufstellung und Verfolgung einer umfassenden nationalen Entwicklungsstrategie; die Gewährleistung der Leistungsfähigkeit, Zuverlässigkeit und Integrität der zentralen Institutionen des modernen Staates; die Verbesserung der Fähigkeit der Regierung, die Regierungspolitik umzusetzen und die Regierungsaufgaben wahrzunehmen, einschließlich des gesamten Komplexes des Vollzugs; und schließlich Rechenschaftspflicht für die getroffenen Maßnahmen und Transparenz der Entscheidungsprozesse.

127. Ungeachtet ihrer ideologischen Ausrichtung, der geographischen Lage oder des Entwicklungsstandes neigen Gesellschaften, denen es an Demokratie fehlt, schließlich dazu, einander immer ähnlicher zu werden, mit einer mehr oder minder machtlosen Mittelschicht, einer zum Schweigen verurteilten Bevölkerung und einer herrschenden Oligarchie, die mit Hilfe eines Systems der alles durchdringenden und oft sogar institutionalisierten Korruption darauf bedacht ist, den eigenen Vorteil wahrzunehmen. In einer Demokratie haben die Menschen mehr Freiheit, gegen Betrügerei und Korruption ihre Stimme zu erheben. Eine bessere Regierungs- und Verwaltungsführung bedeutet, daß bürokratische Verfahren dazu beitragen, daß Fairneß gewährleistet ist, anstatt Beamte zu bereichern.

128. Demokratie ist zwar nicht das einzige, aber das einzig zuverlässige Mittel, um eine verbesserte Regierungs- und Verwaltungsführung zu erreichen. Dadurch, daß die Demokratie der Bevölkerung größere Partizipation ermöglicht, sorgt sie dafür, daß die nationalen Entwicklungsziele mit größerer Wahrscheinlichkeit breiten gesamtgesellschaftlichen Bestrebungen und Prioritäten Rechnung tragen. Dadurch, daß sie geeignete Einrichtungen und Wege für eine Regierungsnachfolge anbietet, schafft die Demokratie einen Anreiz, die Leistungsfähigkeit, Zuverlässigkeit und Integrität der zentralen staatlichen Institutionen zu schützen, einschließlich des öffentlichen Dienstes, der Rechtsordnung und des demokratischen Prozesses selbst. Indem sie die Regierungen politisch legitimiert, stärkt die Demokratie deren Fähigkeit, ihre Politik und ihre Aufgaben effizient und wirksam auszuführen. Indem sie die Regierung den Bürgern verantwortlich macht, bewirkt die Demokratie eine größere Aufgeschlossenheit der Regierung für die Belange der Bevölkerung und schafft zusätzliche Anreize für Transparenz bei der Entscheidungsfindung.

129. Der vom Volk erteilte Regierungsauftrag verleiht Legitimität; er gibt jedoch keine Gewähr für Geschick oder Weisheit. Demokratie kann nicht im Handumdrehen eine gute Regierungs- und Verwaltungsführung hervorbringen, und eine demokratische Regierungsform führt nicht augenblicklich zu maßgeblichen Verbesserungen bei den Wachstumsraten, in den sozialen Verhältnissen oder bei der Gleichberechtigung. Indem sie jedoch den Menschen Mitsprachemöglichkeiten bei den sie berührenden Entscheidungen einräumt, bringt die Demokratie die Regierung dem Volk näher. Durch Dezentralisierung und die Stärkung der Strukturen der Gemeinwesen können örtliche Faktoren, die sich auf Entwicklungsentscheidungen auswirken, besser berücksichtigt werden.

130. Demokratie läßt Selbstgefälligkeit nicht zu. Antidemokratische Praktiken lassen sich selbst in Ländern feststellen, in denen die demokratischen Traditionen am tiefsten verwurzelt sind. Eine chronisch niedrige Wahlbeteiligung, Kandidatenfinanzierung durch Sonderinteressen und mangelnde Transparenz bei bestimmten Regierungsinstitutionen lassen sich als konkrete Beispiele nennen. In ähnlicher Weise gehört das Vorhandensein einer permanenten Unterschicht zu den Merkmalen vieler der wohlhabendsten Gesellschaften. Schließlich haben die hartnäckige, hohe Arbeitslosigkeit und die Anwesenheit ausländischer Zuwanderer in einigen Gesellschaften mit dem höchsten Lebensstandard zu einem Wiederaufleben fremdenfeindlicher, ultranationalistischer und von Grund auf antidemokratischer Bewegungen geführt. Diese Erscheinungen weisen auf die Notwendigkeit hin, sogar in Gesellschaften, in denen die Demokratie seit langem als gesichert gegolten hat, die politische Entwicklung zu festigen.

131. Anderenorts hat sich die in Jahrzehnten der Einparteienherrschaft aufgestaute Frustration Luft gemacht, aber zu einer Begriffsverwirrung zwischen Mehrparteienwahlen und dauerhafter Demokratie geführt. Pluralismus und Parlamentarismus sind zwar wesentliche Voraussetzungen für den Übergang zu einer demokratischen Regierungsform, doch gewährleistet der Niedergang des Einparteienstaates nicht den letztlichen Triumph der Demokratie. Das Auseinanderbrechen von aus mehreren Volksgruppen zusammengefügten Gesellschaften und die schwierigen Anfänge des Übergangs zur Marktwirtschaft haben zu einem Wiederaufleben antidemokratischer Tendenzen geführt, die nach politischer Macht streben.

132. Das Aufkommen antidemokratischer Kräfte, die ihre Anziehungskraft aus der Enttäuschung der Bevölkerung über die schlechte Wirtschaftslage beziehen, beschränkt sich nicht auf Wohlstandsgesellschaften oder Gesellschaften im Umbruch. Überall in den Entwicklungsländern stehen Gesellschaften heute vor der schwierigen Aufgabe, nicht nur den Übergang zur Demokratie, sondern auch die Reform ihrer Volkswirtschaft zu bewältigen. Gesteigerte Erwartungen und schwierige wirtschaftliche Verhältnisse in den Anfangsphasen der Reform stellen ebenfalls eine Herausforderung für die Demokratisierung dar. In vielen Fällen wird die Situation durch die Verwicklung in interne oder internationale Konflikte weiter kompliziert. Wo Ressourcen knapp sind und der Großteil der Bevölkerung seine Grundbedürfnisse nicht decken kann, ist die politische Entwicklung ein außerordentlich schwer zu erreichendes Ziel. Der politische Fortschritt wird oft durch den Kampf um den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg gehemmt.

133. Die Erhaltung der Demokratie und der Entwicklung innerhalb der Staaten steht in einem engen Zusammenhang mit der Ausweitung der Demokratie in den Beziehungen zwischen den Staaten und auf allen Ebenen des internationalen Systems. Demokratie in den internationalen Beziehungen ist die einzige Grundlage, auf der sich gegenseitige Unterstützung und Achtung zwischen den Nationen aufbauen läßt. Wenn in den internationalen Beziehungen nicht wahre Demokratie herrscht, wird der Friede nicht von Dauer sein und kann ein zufriedenstellender Fortgang der Entwicklung nicht gesichert sein.

134. Der Grundsatz der Demokratie innerhalb der Völkerfamilie ist ein wesentlicher Bestandteil des in der Charta der Vereinten Nationen vorgesehenen Systems der internationalen Beziehungen. Dieser Grundsatz bedeutet, daß allen Staaten, ob groß oder klein, uneingeschränkte Gelegenheit zur Mitsprache und Mitwirkung eingeräumt wird. Er bedeutet, daß in den Vereinten Nationen selbst demokratische Grundsätze angewandt werden. Er bedeutet, daß alle Organe der Vereinten Nationen die ihnen zustehende Rolle uneingeschränkt wahrnehmen können und auch tatsächlich wahrnehmen. Er wird dazu beitragen, die Ausgewogenheit zwischen den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen der Vereinten Nationen zu wahren, damit diese einander verstärken können.

135. Demokratie in den internationalen Beziehungen bedeutet außerdem die Beachtung demokratischer Grundsätze im zwischenstaatlichen Verkehr außerhalb der Vereinten Nationen. Sie bedeutet bilaterale Gespräche anstatt bilateraler Drohungen. Sie bedeutet Achtung vor der Unversehrtheit und Souveränität anderer Nationen. Sie bedeutet Konsultation und Koordinierung bei der Auseinandersetzung mit gemeinsamen Problemen. Sie bedeutet Zusammenarbeit im Dienste der Entwicklung.

136. Dialog, Diskussion und Einigung auf multilateraler Ebene verlangen große Anstrengung. Sie sind aber das Wesen der Demokratie, innerhalb der Nationen und innerhalb der Familie der Nationen. Vor allem sind sie das wichtigste Mittel, dessen sich die Gesellschaft der Staaten bedienen muß, um ihren gemeinsamen Willen zum Ausdruck zu bringen und Fortschritte zu erzielen.

137. In diesem neuen Zeitalter, in dem Information, Wissen, Kommunikation und geistiger Austausch ausschlaggebend sind für den wirtschaftlichen und sozialen Erfolg, darf die Demokratie nicht nur als ein Ideal oder als einmaliges Ereignis angesehen werden, sondern auch als ein Prozeß, der für die Erzielung greifbarer Fortschritte unabdingbar ist. Die Demokratie bietet den einzigen langfristigen und bestandfähigen Weg zu einer erfolgreichen Entwicklung. Demokratisierung innerhalb des internationalen Systems gestattet es, daß die Verfechter der Entwicklung nicht nur gehört werden, sondern auch über politisches Gewicht verfügen. Eine demokratischere Welt kann die gemeinschaftliche Arbeit an einer Agenda für die Entwicklung erleichtern.

138. Die hier dargelegten fünf Dimensionen der Entwicklung, nämlich Frieden, Wirtschaft, Umwelt, Gesellschaft und Demokratie, sind eng miteinander verzahnt. Diese Dimensionen sind nicht beliebig ausgewählt worden, sondern haben sich im Laufe eines halben Jahrhunderts praktischer Arbeit der Vereinten Nationen und anderer Stellen mit Regierungen, Organisationen und Menschen herauskristallisiert. Im folgenden Abschnitt geht es um die Erzielung vermehrter Kohärenz, größeren Konsenses und stärkerer Zusammenarbeit im Dienste der Entwicklung.


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